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Daniel Hell

Wer gescheitert ist, sollte sich schämen - das hilft

Wer hingegen beschämt ist, verharrt passiv in der Opfer-Rolle. Es sind sprachlich feine, aber inhaltlich grosse Unterschiede, auf die der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell hinweist.

Herr Hell, ich falle gleich mit der Tür ins Haus: Wie scheitert man erfolgreich?
Indem man zum Beispiel aktiv resigniert.

Das klingt nach einem Widerspruch: Ist man denn nicht entweder aktiv – oder man resigniert?
Nein. Resignieren muss nicht passiv sein. Ihre Frage zeigt allerdings bereits ein Problem auf: Wir haben noch keine adäquate Sprache für dieses Thema gefunden. Auch was wir mit Scheitern bezeichnen, kann sehr vieles meinen. Wir fassen aber alles unter einem einzigen negativen Begriff zusammen.

Scheitern ist also nicht nur negativ?
Nicht unbedingt. Scheitern leitet sich zwar von Scheit ab, vom Scheiterhaufen, den man nicht mehr zusammenfügen kann. Da ist etwas kaputt gegangen, man kann nicht einfach so weitermachen wie bis anhin. Aber es gibt eben auch eine positive Seite: Es kann etwas Neues entstehen.

Indem man aktiv resigniert, wie Sie zu Beginn gesagt haben. Was muss man sich darunter vorstellen?
Auch da ist es aufschlussreich, das zunächst einmal sprachlich zu analysieren. Resignieren ist ambivalent: Zum einen meint das lateinische resignare eine Niederlage erleiden, einer Sache entsagen, die Fahne einziehen – zum andern aber auch einen Brief entsiegeln, eine neue Seite im Buch aufschlagen. Resignieren, und das ist ganz zentral, beinhaltet eben beides: auf das Unmögliche verzichten, aber auch nach dem Möglichen greifen. Also nicht eine Vogel-Strauss-Politik betreiben und den Kopf einziehen, sondern die Situation aktiv annehmen.

Lassen Sie uns anhand eines Beispiels anschauen, wie das konkret ausschauen könnte. Eine 25-jährige Medizin-Studentin fällt durch die Prüfungen und muss ihr Studium deshalb abbrechen. Welches Verhalten würde nun darauf hindeuten, dass sie aktiv resigniert?
Da kann ich aus Erfahrung sprechen, denn ich habe früher solche Studierende beraten. Aktiv resignieren bedeutet hier, neue Wege freizumachen, andere Möglichkeiten auszuloten. Es ist wichtig, dass diese Studentin sagen kann: «Das ist jetzt nicht gegangen, aber es gibt noch andere Wege.»

Zum Beispiel ein Psychologie-Studium?
Ja, zum Beispiel. Noch wichtiger als ihr zu helfen, ein neues Fach zu finden, wäre es aber, sie in ihrem Ringen um eine eigene Lösung zu unterstützen.

Wenn sich eine Tür schliesst, öffnet sich eine andere, heisst es dann oft. Das meinen Sie aber nicht, oder?
Nein, denn diese Tür geht ja in der Regel nicht einfach von alleine auf, sondern man muss sie oft selber öffnen. Das ist definitiv ein schwieriger Prozess, der viele Gefühle auslösen kann. Wenn man aktiv resignieren möchte, braucht das viel Vertrauen in sich selber.

Eine Art Selbstvertrauen?
Ja, aber weniger eine kognitive Selbstbewertung, sondern mehr ein affektives Vertrauen in sein Geschick. Das oft genannte Paradebeispiel dafür ist Abraham Lincoln: Dieser scheiterte in Wahlen immer wieder, bis er dann eben doch Erfolg hatte und schliesslich zum Präsidenten der USA gewählt und damit quasi zur Ikone des Selbstvertrauens wurde. Lincoln war eben nicht bloss ein Stehaufmännchen, sondern einer, der aus Niederlagen lernte und sich stets weiterentwickelte. Er scheint ein Vertrauen in sich gehabt zu haben, nach dem Motto: «Ich schaffe das schon.»

Wie kommt man zu einer solchen Einstellung: «Ich bin zwar durchgefallen bei den Medizin-Prüfungen, aber ich traue mir trotzdem zu, jetzt das Psychologie-Studium durchzuziehen»?
Vertrauen braucht Zutrauen, die Erfahrung, dass andere zu einem stehen. Ob es darüber hinaus ein Grundvertrauen gibt, das dabei hilft, aktiv zu resignieren und sich seinen Problemen zu stellen ... Das ist schwer zu sagen, aber wahrscheinlich beruht auch dieses Grundvertrauen auf positiven biografischen Erfahrungen, ist also mindestens zum Teil ein Geschenk des persönlichen Umfelds.

Beleuchten wir den Teil, den man aus eigener Kraft erreichen kann. Was kann man aktiv dazu beitragen, um eine neue Tür öffnen zu können?
Sich dieser Situation stellen. Aktiv resignieren bedeutet: Es ist so, ich kann es nicht beschönigen, ich kann nicht davor flüchten. Diese Einsicht ist schmerzhaft und braucht oft lange Zeit. Dabei kann ja auch mein Selbstbild Risse bekommen; ich kann gleichsam meine Fassade nicht mehr aufrechterhalten. Vielmehr muss ich akzeptieren, dass ich nicht alles im Griff habe. Es gibt Grenzen im Leben, die man akzeptieren muss. Aber gerade dieses Akzeptieren bietet dann die Möglichkeit, etwas anderes zu entdecken.

Zum Beispiel ein Psychologie-Studium anstatt jenem der Medizin.
Nein, das geht weit darüber hinaus. Gerade in Krisen und nach Niederlagen bietet sich die Möglichkeit, sich vertieft mit seiner eigenen Existenz auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang hat der Philosoph Karl Jaspers den Begriff der Existenz-Erhellung geprägt. Ich glaube: Wenn man Glück hat, kann man durch Scheitern und aktive Resignation eine andere Dimension erfahren, etwas Tieferes, das vielleicht sogar das Vertrauen in sich selber stärken kann.

Meinen Sie mit Glück auch das Umfeld? Wenn bei der Studentin sowohl die Mutter als auch der Vater Ärzte sind, dann fällt es umso schwerer zu sagen: «Ein Psychologie-Studium wäre auch ganz interessant!»
Das stimmt. Aber es könnte bei der Studentin eben auch einen Ausbruch aus der familiären Tradition bewirken. Vielleicht hat ja das familiäre Erbe eine grosse Rolle bei der Berufswahl gespielt. Ein solches Scheitern, das so schmerzhaft ist in ihrem Leben, könnte nun dazu beitragen, dass es verstärkt zu einer eigenen Entwicklung kommt. Aber eines ist klar: Das ist furchtbar schwierig, wenn man genau das, was man im Leben unbedingt erreichen wollte, unwiderruflich aufgeben muss. Ich kenne Patienten, die beruflich gescheitert und nie darüber hinweg gekommen sind – weil es für sie der Traum des Lebens war, genau diese berufliche Tätigkeit auszuüben.

Nun könnte man auf eine andere Volksweisheit zurückgreifen: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker!
Da muss man differenzieren. Nachträglich werden eigene Schwierigkeiten und Rückschläge gerne romantisiert. Im Augenblick des Scheiterns sieht das aber ganz anders aus. In der Verhaltenstherapie und Management-Literatur wird ja häufig der irische Schriftsteller Samuel Beckett zitiert: «Immer wieder besser scheitern.» Ich bin ein bisschen skeptisch gegenüber diesen nur positiv-orientierten Ansätzen. Scheitern ist wirklich etwas ganz Schwieriges. Da muss man dann auch aufpassen mit Begriffen wie «Verarbeitung» oder «Trauerarbeit».

Was empfehlen Sie stattdessen?
Zum eigenen Schamerleben zu stehen und nicht nur gekränkt zu reagieren.

Sich zu schämen? Das überrascht mich. Bei uns ist das ja eher negativ besetzt.
Ich kann mir vorstellen, dass das im ersten Moment irritiert. Wir sind hier stark von der englischen Sprache beeinflusst. Da gibt es zwar den gehobenen Ausdruck «sense of shame», also Schamgefühl. Aber im Alltag findet er keine Anwendung. Stattdessen wird nur von «to be ashamed» gesprochen, also von beschämt sein. Und das ist immer passiv. Man ist Opfer, man ist beschämt. Interessanterweise gibt es im Englischen nicht, was es praktisch in allen Sprachen gibt, sei es im Griechischen, im Lateinischen, Französischen oder Deutschen: Die Unterscheidung von «ich schäme mich» auf der einen Seite und «ich werde beschämt» auf der anderen Seite. Das sind aber so bedeutsame Unterschiede wie zwischen Demut und Demütigung.

Unter Berücksichtigung dieser Unterscheidung zwischen sich schämen und beschämt sein: Warum raten Sie jemandem, sich zu schämen, um eine schwierige Situation besser akzeptieren zu können?
Ich rate generell und in erster Linie dazu, das eigene Fühlen anzunehmen. Im Falle des Schamerlebens ist dies besonders schwierig – aber hilfreicher als sich nur als beschämtes Objekt zu sehen. Denn Scham ist ein Selbstgefühl, das mich gerade bei einer Infragestellung stark, wenn auch unangenehm, selber spüren lässt. Grundsätzlich ist Scham – ich nenne sie die «Türhüterin des Selbst» – ein Gefühl, das abgrenzt, also eine Differenz zwischen innen und aussen schafft. Scham stärkt die Ich-Grenzen. Das zeigt sich sogar äusserlich: Wenn man sich schämt, zeigt man mit dem Erröten die Hautgrenzen an.

Und wie genau hilft das, erfolgreich mit einem Misserfolg umzugehen?
Entscheidend ist: Sich zu schämen ist ein aktives Gefühl. Wenn ich mich in einer Situation schäme, dann bin ich aktiv beteiligt; dann spüre ich mich, dann bin ich in mir verankert. Wenn ich hingegen nur beschämt oder gekränkt bin, bin ich Opfer, nur Objekt. Deshalb sind auch gekränkt sein und krank werden eng miteinander verbunden. Wenn ich also zwischen Kränkung und Schamgefühl wählen kann, scheint mir das aktive Schamerleben günstiger zu sein.

Kommen wir nochmals auf die Medizin-Studentin zu sprechen: Wenn Sie, Herr Hell, sie jetzt beraten könnten ...
... dann würde ich zunächst Anteil nehmen daran, dass sie sich wahrscheinlich beschämt fühlt durch das, was passiert ist. Alle in der Familie sind Mediziner, sie selber nicht ... das trifft sie. Deshalb würde ich darauf achten, dass sie sich nicht nur als Opfer sieht, sondern auch ein aktives Gefühl zeigt – und sich dadurch besser spürt. Sich zu schämen hat eine ganz andere Qualität, bietet eine ganz andere Entwicklungschance, als wenn man nur gekränkt ist.

Wie hören sich solche Sätze an, wenn man jemandem helfen will, aus der Opfer-Rolle herauszukommen?
Das würde ich selbstverständlich nicht wortwörtlich so sagen, sondern ich würde vielmehr im Gespräch ihren Gefühlen einen grossen Wert beimessen und dabei auch implizit zum Ausdruck bringen: Man darf sich schämen. Natürlich ist alles immer eine Frage des Masses. Es gibt auch eine überschäumende oder destruktive Scham.

Nun geht es ja auch darum, das Selbstvertrauen wieder zu stärken – das affektive Vertrauen in sein Geschick, wie Sie es nannten. Inwieweit würden Sie die Patientin auch loben, ihr Mut zusprechen? Gerade das nähere Umfeld, das es gut mit jemandem meint, reagiert häufig so.
Da muss man aufpassen. Wenn Sie als gescheiterte Person nur auf ein gutes Echo aus sind, im narzisstischen Sinn, dann gibt es kaum eine Ich-Entwicklung. Wenn es Ihnen aber gelingt, die Differenz zwischen innen und aussen aufrechtzuerhalten, indem Sie sich schämen, dann können Sie sich durch die Stärkung Ihrer Ich-Grenze ein Stück weit weiter entwickeln. Deshalb versuche ich eher zu verstehen und dadurch das Eigene zu stärken, als nur zu loben.

Ist es schwieriger, sich zu schämen und damit ein aktives Gefühl zu entwickeln, wenn man nichts für sein Scheitern kann? Die Studentin hätte womöglich früher oder intensiver lernen können. Ein 55-jähriger Angestellter hingegen, der in Folge eines Stellenabbaus unverschuldet entlassen wird, hat es da vermutlich schwerer.
Mit Sicherheit. Aber auch hier gilt: Wenn der entlassene Mann nur gekränkt ist, besteht die Gefahr, dass er sich selber verliert, denn beschämt zu sein ist eigentlich kein Gefühl. Ich könnte mir aber vorstellen, dass er auch Wut und Traurigkeit verspürt und die Beschämung nicht auf sich sitzen lässt. Man darf ja nicht vergessen, dass es tragisch ist, wenn jemand sein Leben lang gut gearbeitet hat und dann noch kurz vor der Pensionierung seinen Job verliert. Die Gefahr hier besteht nun genau darin, dass er zu wenig sieht, dass ihm ein Unrecht geschehen ist und er deswegen nicht beschämt sein muss.

Wie würden Sie ihm dabei helfen?
Indem ich mit ihm zum Beispiel konkret über seine Möglichkeiten rede: Gibt es nicht etwas in seinem Leben, das er immer schon hätte machen wollen? Vielleicht sogar einen Traum, dem er aufgrund seiner beruflichen Verpflichtung nicht nachgehen konnte? Dann sieht er vielleicht plötzlich: Die Kündigung bringt mir finanzielle Nachteile, ich verliere Kontakt mit den Kollegen, das ist alles gravierend, aber es gibt da auch etwas, das ich immer schon machen wollte – und jetzt kann ich es tun. Das kann ein Weg sein, aber ich möchte noch einmal betonen: Es gibt nichts zu beschönigen. Eine Stehaufmännchen-Psychologie greift zu kurz.

Wie kriegt man wieder Vertrauen in sich selber?
Eine Möglichkeit stellt der Weg der kleinen Erfolgserlebnisse dar.

Wenn Sie von Erfolgserlebnissen sprechen, könnte man hier womöglich von Spitzensportlern lernen? Ich frage das auch, weil mein nächster Gesprächspartner der Sportpsychologe Hanspeter Gubelmann ist, der u.a. die Schweizer Skispringer um Simon Ammann betreut.
Im Vergleich zu anderen Bereichen wird im Sport sehr stark auf äussere Ziele wie etwa Medaillen hingearbeitet, die mit einer enormen gesellschaftlichen Bedeutung versehen sind. Ich bezweifle, dass eine solche leistungsorientierte Anerkennung tatsächlich das innere Vertrauen fördert. Umgekehrt kann aber eine äussere Beschämung das innere Vertrauen stark erschüttern.

Wie bei einem Athleten, der sich vier Jahre auf die Olympischen Spiele vorbereitet hat – und dann in zehn Sekunden alles verspielt. Kann ein solches sportliches Scheitern auch was grundlegend Gutes haben?
Ja – wenn das Scheitern die Erfahrung mit sich bringt, dass die Akzeptanz, die man als Mensch erfährt, nicht nur vom Erfolg abhängig ist.

Nun leben wir heute in einer ausgesprochenen Leistungsgesellschaft. Werden Sie als Therapeut häufiger als früher mit diesem Thema konfrontiert?
Tendenziell ja. Viele Patienten möchten in der Therapie Erfolg haben. Sie möchten «gute Patienten» sein. Und wenn sie auch nur vorübergehend Misserfolg erleiden, ist das eine grosse Enttäuschung. Erfährt aber ein Patient, dass er deswegen nicht anders bewertet wird, sondern das Grundvertrauen, das der Therapeut in ihn setzt, erhalten bleibt – dann ist das eine Erfahrung, die das Selbstvertrauen stärkt. Ähnlich dürfte es beim Sport sein: Stehen die Leute auch im Misserfolg zu jemandem, kann das für das eigene Vertrauen sehr wichtig sein.

Und was kann man von den «Stehaufmännchen des Sports» fürs Leben lernen?
Gerade bei Sportlern, die erfolgreich scheitern – ich nenne jetzt mal Simon Ammann, den Sie vorhin erwähnt haben, als Beispiel –, ist meines Erachtens genau diese Art Scham ersichtlich: Man schiebt die Niederlage nicht ab, spielt nicht die beleidigte Leberwurst, sondern stellt sich dem Schmerz.

Die Fragen.

Wie scheitert man erfolgreich?

Das Scheitern selber tut immer weh – es kann jedoch auch etwas Gutes zur Folge haben. Doch wie muss man mit Misserfolgen umgehen?

Daniel Hell

Wer gescheitert ist, sollte sich schämen - das hilft

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